Dieser Text erschien zuerst im Programmheft zur Inszenierung "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" am Theater Bielefeld.

Auf den Spielplänen der deutschsprachigen Bühnen hat Arturo Ui derzeit Konjunktur. Die landläufigen Stadttheater – so sehr sie stets um individuelle Profilierung bemüht sind – können sich doch dem Einfluss gewisser gesellschaftlicher Ausschläge nicht erwehren. So führte beispielsweise der Erfolg von Wolfang Herrndorfs Coming-Of-Age-Roadtrip Tschick zu einer Welle von Bühnen-Bearbeitungen dieses Romans und die sonst oft stiefmütterliche behandelte Kinder-und-Jugend-Sparte erlebte ein unerwartetes goldenes Zeitalter. Als dann Ferdinand von Schirach der Welt sein penetrant aufmerksamkeitsheischend betiteltes Strafprozess-Imitat Terror schenkte, wurde selbst das gemeinhin verpönte Stilmittel „Mitmachtheater“ (in diesem Fall: Abstimmen über den Ausgangs des Stückes) landauf landab lustvoll angenommen und stellenweise gar zur inszenatorischen Innovation ausgerufen.

Die Welt erlebt aktuell eine Renaissance autokrater bis faschistoider Kräfte, und spätestens seit auch nationalsozialistische Wiedergänger einmal mehr im Reichstagsgebäude den Arm heben dürfen, scheint es geradezu folgerichtig, Brechts hektische Parabel vom Aufstieg des kleinen Gangsterbosses zum großen Diktator auf die knarzenden Bretter zu wuchten. Man könnt’ sagen: Ähnlich wie die Sicherheitsschloss-Industrie vom Anstieg häuslicher Einbrüche profitiert, profitieren die Theater vom Anstieg offen gezeigten Rassismus, Nationalismus und völkischer Ideologien.
Worauf wir mit der Geschichte vom „aufhaltsamen Aufstieg“ reagieren möchten ist unzweifelhaft. Doch womit reagieren wir da? Was ist die Antwort, die uns Brechts Stück – welches die US-Amerikanische Bevölkerung der 1940er Jahre als eindeutigen Adressaten hatte – auf unsere heutigen Fragen geben soll? Was sind überhaupt unsere Fragen? Wie konnte es dazu kommen? Das steht in den Geschichtsbüchern, dazu muss man nicht ins Theater gehen. Was wird passieren? Das kann niemand wissen und alle, die das Gegenteil behaupten, sind verkappte Glaskugelbesitzer. Was sollen wir tun? Schwierig. Die Erfahrung lehrt, dass Theater und Didaktik in etwa so gut harmonieren wie Zartbitterschokolade und Lachs-Tatar.

Zumindest mir geht es so: Je häufiger ich Vokabeln wie „bestechende Mahnung“, „zeitlose Aktualität“ oder „den Spiegel vorhalten“ in Ankündigungen von Theaterinszenierungen lese, desto skeptischer werde ich. An wen richten sich diese Mahnungen? Welches Publikum muss extra auf die Aktualität von gesellschaftlichen Zusammenhängen hingewiesen werden? Und wer hält eigentlich den Spiegel?
Ich unterstelle einfach mal, dass ein Großteil des Publikums eines Stadt- oder Staatstheaters die groben Inhalte der sogenannten „klassischen“ Stücke auf den Spielplänen mehr oder weniger präsent hat. Brecht als alter weißer Autor/Mann gehört selbstverständlich zum Bildungskanon. Schon Schüler*innen (also den unbelecktesten aller Zuschauenden) wird – im schlimmsten Fall – alles, was die Lehrpläne glauben über den Stoff vermitteln zu müssen, vorgekaut in die Birne gekippt und die Inszenierung dann als bestätigendes oder abschreckendes Beispiel für die Erkenntnisse der Schulbuch-Interpretation konsumiert. Wie gesagt: Im schlimmsten Fall.

Und der Rest von uns? Besuchen wir wirklich eine Inszenierung von Arturo Ui, weil wir nicht wissen, wie der Faschismus funktioniert? Oder weil wir die Gefahr nicht sehen, wie wir ihm gerade wieder die Tür aufschließen? Der tapfere Martin Wuttke performt den Ui im Schweiße seines Angesichts seit 1995 (!) bis heute auf dem gesamten Globus – und es hat realpolitisch leider überhaupt nix genützt. Aber Sarkasmus beiseite und Hand auf’s Herz: Gehen Sie ins Theater um sich von Schiller moralisch erziehen oder von Brecht belehren zu lassen? Ich bin sicher, genau wie ich haben Sie andere und schönere Gründe – aber darum geht es eigentlich gar nicht. Es geht um die einfache aber doch komplizierte Frage: Wenn sich alle einig sind, dass es das Stück der Stunde ist – warum es dann noch inszenieren? Und was unterscheidet diese „Historienfarce“ beispielsweise von Hitlers Helfer (Geschichte), Inglorious Basterds (Märchen) oder Er ist wieder da (Satire)?

Seit Jahrzehnten herrscht Hitler-Overkill. Alles ist Hitler. Hitler ist unsere Benchmark bei der Quantifizierung von Verbrechern. Hitler ist unser Ablass, wenn wir in hunderten von Parodien über ihn lachen. Hitler bleibt ein bequemer Dämon auf Distanz, wenn wir ihn in wackeligen Schwarzweißbildern das Gesicht verzerren sehen oder ihn unter kratzigem Rauschen brüllen hören. In Hitler vereinen sich die sogenannte Hochkultur (Chaplin) und die sogenannte Subkultur (Hitler-Katzen im Internet). Doch Hitler braucht Kontext: Mal entlockt er uns ein empörtes Schnappatmen, mal ein ermüdetes Gähnen. Und wir hoffen alle inständig: Bevor der böse Mann mit dem kleinen Bart nicht leibhaftig wiederkehrt, wird der Faschismus in Deutschland nie wieder Fuß fassen können.

Und hier liegt meiner Meinung nach die Problematik – sichtbar zu machen an einer zentralen Szene im Stück: Arturo Ui bekommt Unterricht in Auftritt und Sprache von einem Schauspieler. Wenn Sie sich diese Szene in Trailern und Aufzeichnungen diverser (auch internationaler) Inszenierungen auf YouTube ansehen, werden Sie feststellen, dass der Ablauf der Szene stets derselbe ist. Beflissen den Brecht’schen Anweisungen folgend wird aus dem (meist komplexbehaftet und neurotisch dargestellten) kleinen Gangster ein selbstbewusster und exzentrischer Populist im Stile seiner diktatorischen Blaupause geschaffen – denn Adolf soll ja ebenfalls Schauspielunterricht genommen haben. Die Begeisterung des Publikums misst sich meist daran, wie virtuos der Schauspieler oder die Schauspielerin den Gestus und Duktus dessen imitieren, was wir uns unter einem echten Hitler vorstellen.

Doch damit wird der GröFaZ wieder zur Benchmark, zum Endgegner. Es zementiert Hitler als Schablone für unseren Blick auf faschistoides Denken und Handeln. Nachdem wir uns also wohlig gegruselt haben, verlassen wir das Theater … und wenn’s dann mal politisch wird, kneifen wir das rechte Auge zu und halten betriebsam die Schablone an. Wenn x ≠ Hitler, dann gilt: Keine Gefahr! Brauch’ ich auch nix aufzuhalten. Dieser Problematik wollten wir begegnen, indem wir kurz die Augen vor dem blendenden Brecht-Nimbus verschlossen und entschlossen zupackten. Indem wir die Gefahr nicht in dem suchten, was uns abstößt, sondern in dem, was sich uns anschmiegt. Indem wir versucht haben, die Führer-fokussierte Struktur des Stückes zu demokratisieren, um nicht nur den charismatischen Obertan sondern auch seine willfährigen Untertanen ins rechte Licht zu rücken.

Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui gibt uns keine Antwort (wie es Theater überhaupt nie tun kann). Er sagt uns nichts, was wir nicht schon wissen, und er demaskiert niemanden (wir leben in einer Zeit, in der wir alle Informationen haben und Masken verpönt sind). Doch er ist eine Verdichtung dessen, was der Fall ist – er lässt das gesellschaftspolitische Räderwerk im Zeitraffer laufen. Er gibt uns die Möglichkeit – statt vor dem Monströsen zu mahnen – das Bekannte zu befragen. Zum Beispiel den Text selbst. Er ist nämlich nicht für uns heute geschrieben und wir dürfen ihn – ein sehr deutscher Genie-Kult verbietet es – nicht groß verändern. Indes in Szene setzen sollten wir ihn umso beherzter – in dem Bewusstsein, dass die Zeiten sich geändert haben. Denn das Menschenverachtende ist stets Zeitgenosse. Und es verführt uns nicht – wir lassen es zu. So bleibt die Grundfrage von Brechts Stück stets unberührt:

Wann ist der Punkt, an dem ich aufstehe und es aufhalte?




Der Dichter singt sein Lied behält Humor
Er bindet schamlos sich die Maske vor
Des geilen Onkels Kenner vieler Künste
Und seine Maske wächst auf meine Haut
Warum bricht seine Stimme nicht noch meine
Die seinen blutgetränkten Text ihm nachsingt 

– Heiner Müller, Anatomie Titus Fall of Rome